Braucht New Work auch New Learn?

Wir dürfen im deutschen Bildungsraum behaupten, dass wir in einer Welt leben, in der fast unerschöpfliches Wissen für jeden von uns frei zugänglich ist. Nun könnte man schnell meinen, dass genau diese Entwicklung unseren Berufsstand als Trainer, Berater und Coaches auf kurz oder lang überflüssig macht, doch wir haben da eine etwas andere Brille auf und leben schon heute für eine größer gedachte Mission, als es vielleicht in der Breite der Gesellschaft angenommen wird.

Doch von vorn: Sagen wir also, durch die für uns gegebene Verfügbarkeit von Wissen ist schon lange eine Basis geschaffen, um uns täglich weiterzubilden. Das klingt erstmal gut. Aber ist es wirklich so, dass wir uns dieser Ressource immer bewusst sind? Und machen wir wirklich regelmäßig aus eigener Motivation bewussten Gebrauch davon?

Dass wir als Menschen seit unserer Geburt täglich etwas dazulernen, wird wohl kaum jemand abstreiten. Im Erwachsenenalter lernen wir nicht mehr wirklich mit derselben Neugierde, Intuition, Unvoreingenommenheit und Offenheit, wie es ein Kind tut. Das liegt aus meiner Wahrnehmung auch daran, dass wir über viele Jahre in den Bildungseinrichtungen unserer Nation eher gelernt hatten, uns anzupassen, statt uns individuell zu entwickeln. Diese Anpassung vollzog sich in Form von „Gefallen durch Leistungsnachweis“ und „Vortragen, was gehört werden will“. Mit dieser Erfolgsstrategie sind wir im Berufsleben angetreten und versuchten auch dort wieder, zu „gefallen durch Leistungsnachweis“ und „vorzutragen, was gehört werden wollte“, um Karriere zu machen. Mit der Form der Anpassungsfähigkeit, die wir heute brauchen, um uns auf die Anforderungen der VUCA-Welt einzustellen, hat dies nur leider wenig zu tun.

Was ich hier gerade etwas überspitzt dargestellt habe und sicher in der Realität auch Ausnahmen kennt, wird heute glücklicherweise von vielen Menschen bereits sehr kritisch betrachtet und man erkennt die Chancen für intuitives, multiperspektivisches und selbstverwirklichendes Lernen in der Breite des Angebots für persönliche Entwicklung und als Recht für jeden Menschen an. Auch haben wir inzwischen verstanden, dass wir durch gute Vernetzung nicht alles lernen müssen und damit flexibler werden.

In der beruflichen Praxis fällt mir nun eine Sache sehr deutlich auf – nämlich, dass ich bei erwachsenen Menschen immer wieder die Ressource „wachküssen“ muss, sich ihres intuitiven Lernverhaltens, welches sie als Kinder in Perfektion beherrscht haben, auch im Erwachsenenalter zu bedienen. Die Form der Anpassungsfähigkeit, die ein Kind in frühen Jahren besitzt, ist eben eine andere. Es ist eine Form von Anpassungsfähigkeit, die vor allem frei von Leistungsdruck und geprägt durch Neugierde, Offenheit, Unvoreingenommenheit und Mut ist. Genau das beschreibt aus meiner Sicht die Filter, mit denen sich Organisationen befassen sollten, denn so ermöglichen sie ihren Mitarbeitenden, das zu lernen, was sie aus ihrer individuellen Wahrnehmung für das Bestehen in der VUCA-Welt brauchen.

Fertigkeiten sind kontext-spezifisch, wohingegen Fähigkeiten über dem Kontext stehen. Wir brauchen Menschen, die in verschiedenen Kontexten operieren können. Deshalb müssen wir übergeordnet wieder mehr in die kindliche Anpassungsfähigkeit als in die Spezialisierung für einen einzelnen Beruf investieren. Das gilt in Schule wie Ausbildung und Erwachsenenbildung gleichermaßen und dazu zählen unter anderem wichtige Fähigkeiten wie Selbst-Steuerung, Problemlösung, Kreativität und kritisches Denken, die Zusammenarbeit und Kommunikation in wechselnden und multikulturellen Gruppen oder Fähigkeiten zur Selbstführung allgemein.

Wenn ich mich jetzt also frage, welche Rolle mir als Berater, Trainer und Coach zukünftig zukommt, fühle ich mich bestärkt darin, weiter als Moderator und Begleiter von Menschen und Organisationen auf dieser spannenden Reise anzutreten, der ein besonderes Augenmerk auf den Faktor Persönlichkeit legen wird. Ich beobachte allerdings aktuell vor allem eine Veränderung der traditionellen Lernformen in Richtung einer Idee, das Ganze über digitale Technologien fortschrittlicher erscheinen zu lassen. Doch wenn ich weiß, dass Offenheit, Kreativität und kritisches Denken in einer Welt, in der künstliche Intelligenz und Algorithmen die traditionelle Leistung menschlicher Hirne übernehmen werden, immer wichtiger sind, dann sollten diese Kompetenzen auch mindestens die gleiche Aufmerksamkeit und Investition wie digitale Helfer erfahren. In Zeiten der VUCA-Welt sind es die Menschen und der Rahmen, der ihnen für erkenntnisorientiertes Lernen ermöglicht wird, der für den Fortbestand und die Entwicklung von Organisationen von zentraler Bedeutung sein wird.

Wenn Tätigkeiten rasch automatisiert werden und sich Berufe und Anforderungen damit ebenso rasch wandeln, ist die Zeit der vorgefertigten Wissenspakete, die Trainer den Lernenden zur Umsetzung in ihrem Beruf servieren, vorbei. New Learn bedeutet also nicht, die bereits vorhandenen Wissenspakete zu digitalisieren, sondern vielmehr den Menschen zu helfen, sich wieder eine intuitive Form des Lernens als solches beizubringen.

Als Berater liegt es mir sehr am Herzen, dass sich Organisationen vor allem dann entwickeln, wenn sich die Menschen als individuelle Persönlichkeit entwickeln und ihre individuellen Stärken und Talente einbringen können. Aus meiner Sicht gibt es daher für gute Organisationsentwicklung in Zeiten von New Work nicht mehr und nicht weniger zu tun, als die Persönlichkeiten der eigenen Organisation in der vollen Blüte ihrer Potentiale erstrahlen zu lassen und dabei erkenntnisorientiertes Lernen für alle zum höchsten Gut für gemeinsames Wachstum auszuloben. Folgende Ideen, mit denen Sie selber aktiv werden können:

  • Gehen Sie nicht nur auf konkrete Fertigkeiten ein, sondern fokussieren Sie allgemeingültigere Fähigkeiten und individuelle Potentiale Ihrer Mitarbeitenden und Kolleg:innen.
  • Entwickeln Sie gemeinsam Lernfragen und thematisieren Sie darüber das WOZU von Lernprozessen.
  • Verschaffen Sie Überblick durch eine vom Kontext gelöste Meta-Perspektive und helfen Sie, zu abstrahieren und einen unvoreingenommenen, neutralen Blickwinkel zu finden.
  • Visualisieren Sie Gedanken, Beziehungen oder komplexe Sachverhalte auch mal gemeinsam.
  • Konkretisieren Sie Ihr Expertenwissen dort, wo es qualitativ erforderlich ist und der Sache dient.
  • Bestärken Sie Mitarbeitende, eigene Wege zu finden, und verhelfen Sie ihnen eher zu eigenen Erkenntnissen, als vorschnelle Lösungsideen auszusprechen.
  • Erweitern Sie Ihren eigenen Horizont, indem Sie den Weg zu diesen Erkenntnissen Ihrer Mitmenschen ergründen.
  • Teilen Sie Ihre eigenen Erkenntnisse offen und verheimlichen Sie diese nicht – so leben Sie eine Form von Netzwerkintelligenz vor. 

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