Vielfalt gestalten - Systemisches Führen und systemische Gesprächsführung unter der Lupe

„Das ist so und nicht anders“, „Ach, klar – damit habe ich gerechnet“ oder „Das ist komplett neu für mich, sowas konnte ja keiner ahnen“ – so oder so ähnlich kann es klingen, wenn wir versuchen, uns im alltäglichen Miteinander unserer Organisation zurechtzufinden. Oft genug wundern wir uns über das Verhalten der Kollegen und Kolleginnen oder Vorgesetzten. Hatten wir nicht alles besprochen? Ist er sauer auf mich? Habe ich mich ihr gegenüber ungünstig geäußert?

Vermutlich gehen Sie und auch ich häufig der Annahme auf den Leim, dass Kommunikation ein linearer Prozess ist. Das bedeutet, wenn ich A bei meinen Kollegen und Kolleginnen formuliere, kann ich doch mit Ergebnis B rechnen. Oder etwa nicht?

Leider muss ich Ihnen bereits zu Beginn des Textes diesen Zahn ziehen. Kommunikation ist nie linear, aber immer zirkulär. Alles, was ich sage, kann auf hundert verschiedene Weisen von meinem Gegenüber verstanden werden und so deute ich auch die Reaktion auf mein Gesagtes auf hundert verschiedene Weisen. Es entsteht eine Wechselwirkung. Nun ist unser Arbeitsalltag selten von nur einer Konversation mit einem Gegenüber geprägt. Und mehr als zwei Konversationen in seinen Wechselwirkungen bis ins Detail nachzuvollziehen und womöglich zu versuchen, sie zu steuern – unmöglich!

Der systemische Ansatz meint: Das müssen wir gar nicht! Menschen in ihrem Miteinander lassen sich immer als System mit vielen Wechselwirkungen beschreiben. Und dieses System können wir beobachten.

Anhand unserer Beobachtungen geben wir dem System Impulse – beispielsweise neue Meeting-Regeln – und wir schauen, was passiert. Wir können die Kommunikation der einzelnen Mitglieder des Systems nicht voraussehen, aber wir sind durchaus in der Lage, die Rahmenbedingungen entsprechend unseren Wünschen mit organisationalem Weitblick zu gestalten. Wir dürfen nur eben nicht mit linearen Ergebnissen rechnen.

Organisationen und Teams systemisch zu betrachten, schenkt dem*der Beobachtenden – also Ihnen – neue Freiheit, indem die Komplexität vieler einzelner Konversationen reduziert wird. Eine wichtige Regel für Ihre Beobachtungen lautet: Sie sind auch immer selbst Teil des Systems und werden beim Beobachten beobachtet.

Keine Sorge – das hat wenig mit Science Fiction zu tun, sondern ist ein hilfreiches Reflexionsinstrument. Sie begreifen sich selbst als Teil dessen, was in Ihrer Organisation vorgeht. Sie haben unterschiedlichen Einfluss und unterschiedliche Wirkung auf die einzelnen Mitglieder. Diese Annahme erlaubt es Ihnen, individuell auf die unterschiedlichen Mitglieder zu reagieren. Wo gilt es, ein Gespräch zu führen? Wo ist ein*e Mitarbeitende*r vielleicht noch nicht so weit? Wo ist das Vertrauen gestört?

Sie selbst sind Teil des Systems. Alles, was Sie als Impuls, als Arbeitsanweisung hineingeben, wird auf unterschiedliche Art und Weise im System wahrgenommen und Wechselwirkungen entstehen.

Eine weitere Regel lautet: Ihre Beobachtungen entsprechen Ihrer subjektiven Wahrnehmung. Der Abschied von der vermeintlich „objektiven Wahrheit“ in der Kommunikation tut etwas weh. Aber versuchen Sie, Ihre Beobachtungen als Hypothesen zu formulieren. Systemisch wissen wir, dass es so sein kann, wie wir es wahrnehmen, oder eben ganz anders. Diese Art der Betrachtung schenkt uns die Möglichkeit, gemeinsame kreative Lösungen zu erarbeiten. Ohne Anspruch auf „die“ Wahrheit und den einzig besten Vorschlag entsteht eine Offenheit, mit der wir Win-win-Lösungen erzeugen.

Aber wie kommt es eigentlich, dass sich viele Probleme in Organisationen wiederholen, wir sogar manchmal das Gefühl haben, uns im Kreis zu drehen? Systeme streben nach Gleichgewicht. Was für den einen ein Problem darstellt, ist für den anderen die Lösung, um den Status quo zu verteidigen. Folglich ist es auch hier hilfreich, zunächst erstmal nur zu beobachten, Hypothesen zu sammeln und gezielte Impulse – beispielsweise die neuen Meeting-Regeln – ins System zu geben.

Schauen Sie, was passiert, und bleiben Sie neugierig. Welche Hypothesen haben sich bestätigt? Wo war Ihnen etwas nicht bewusst? Immer dann, wenn Sie mit Hypothesen statt fixen Annahmen arbeiten, bekommt Ihr Führungsstil eine Leichtigkeit und gleichzeitige Zugewandtheit gegenüber Ihren Mitarbeitenden.

Ein Hinweis an der Stelle: Hypothesen beziehen sich erstmal nur auf das soziale Miteinander. Es geht nicht darum, fachliche Abläufe und wissenschaftliche Fundierungen mit Hypothesen zu überschütten, sondern unsere Kommunikation mit einer gewissen Zugewandtheit und dem Interesse an der Sichtweise unseres Gegenübers zu gestalten.

Gelebte Zugewandtheit ist eine Führungsaufgabe, die aktueller denn je ist. So ist die Forderung nach flachen Hierarchien eine, die man bei vielen Mitarbeitenden oder Bewerber*innen vernimmt. In manchen Branchen ist sie schwierig bis nicht umsetzbar, weil Hierarchien für Meldeketten und Zuständigkeiten genutzt werden oder die Organisation schlicht sehr groß ist. So wird ein gewisses Organigramm als Struktur benötigt.

Ob die Hierarchien in Ihrer Organisation nun sehr flach oder sehr ausgeprägt sind – für die zwischenmenschliche Kommunikation kann beides hinderlich sein. Die Idee des systemischen Ansatzes an dieser Stelle: Unterscheiden Sie zwischen Organigramm und System. Das Organigramm schreibt jedem Mitarbeitenden eine Funktion zu. Meistens bezieht sich diese Funktion auf eine Stellenbeschreibung und ihre Verantwortlichkeiten. Also stellt ein Organigramm die formale Struktur einer Organisation dar.

Für die Führung nach dem systemischen Ansatz ist es sinnvoll, auch mal die informelle Struktur einer Organisation zu betrachten. Abgesehen vom Organigramm werden den Mitarbeitenden unterschiedliche Rollen zugesprochen. Die eine Person ist vielleicht die organisierte „Wadenbeißerin“, der nächste Kollege ist für seine Büronachbarinnen und
-nachbarn die kritische Stimme, wieder eine weitere Person hat die Rolle als Lieblingskollegin inne – es entsteht ein System aus informellen Rollen und Zuschreibungen. Diese Rollen prägen unser alltägliches Erleben und sollten bei der Hypothesenbildung im Blick behalten werden. Machen Sie sich vertraut mit der Idee, dass die Funktion eines Mitarbeitenden nicht immer seiner zugesprochenen Rolle entspricht und dass er oder sie sogar mehrere Rollen erfüllen kann.

Fassen wir zusammen: Der systemische Ansatz liefert einen Denkansatz, der Ihren Führungsalltag bereichern kann. Die Prämisse lautet, dass auch Sie selbst Teil des Systems sind und beobachtet werden – eine großartige Chance, durch Vielfalt zu gestalten!

Take-Aways

  1. Der systemische Ansatz ist ein Denkansatz. Die Hauptannahme lautet: Organisationen und Menschen lassen sich als System beschreiben und beobachten.
  2. Kommunikation innerhalb dieser Systeme findet nie linear statt. Alles, was wir ins System als Impuls hineingeben, erzeugt Wechselwirkungen. Diese Wechselwirkungen können wir nicht steuern, aber wir können an den Rahmenbedingungen unserer Kommunikation arbeiten.
  3. Von der vermeintlichen Objektivität Abstand nehmen: Beobachten Sie, bilden Sie Hypothesen und finden Sie so zur gemeinsamen Lösung.
  4. Sie selbst sind immer auch Teil des Systems und werden beobachtet.